
München. Wenn Nora Bossong in ihrer Heimatstadt Bremen über den Platz vor dem Bahnhof läuft, denkt sie an Beate Uhse. Fast automatisch sucht ihr Blick dann nach der rot lackierten Tür zu dem Sexshop, der ihr schon aufgefallen war, als sie noch zur Grundschule ging.
Das erste Mal nachgesehen, was sich dahinter verbarg, hat Nora Bossong mit 15 oder 16. Das Thema hat die 1982 geborene Schriftstellerin inzwischen mehrfach beschäftigt. Ihr neues Buch „Rotlicht“ ist eine Art konsequente Fortsetzung dieser ersten verbotenen Expedition in die Welt der Sexindustrie.
Fast 20 Jahre später ist die mittlerweile in Berlin lebende Autorin noch einmal über den Bremer Bahnhofsvorplatz gelaufen. Der Sexshop ist weg. In diesen zwei Jahrzehnten hat sich das Geschäft mit der Erotik verändert. „Das alte Erotikgewerbe stand für das Verruchte“, schreibt Bossong. „Es verband Schmutz und Scham, es wollte alles sein, bloß kein geradezu hysterisch sauberer und familienfreundlicher Flagshipstore für versteckte Fantasien.“
Was sich nicht geändert hat: Die Welt des Rotlichts ist eine Männlichkeitsdomäne – „wie es sie sonst in der westlichen Welt höchstens noch bei Matrosen und katholischen Würdenträgern gibt“. Frauen ist der Zutritt nur bedingt gestattet. Nora Bossong will sich damit nicht abfinden und wissen, was hinter den rotlackierten Türen passiert. Schon 2014 hat sie „Schnelle Nummer“ veröffentlicht, eine Reportage über Stundenhotels zwischen Hamburg und Wien, im Hanser Verlag als E-Book erschienen.
„Rotlicht“ knüpft daran an: Für ihr neues Buch hat Nora Bossong rund ein Jahr lang umfangreich recherchiert, ist durch viele rot lackierte Türen gegangen. Sie war im Frankfurter Bahnhofsviertel unterwegs, das ihr wie eine heruntergekommene Vergnügungsmeile erscheint, in der sie sich Vergnügen nicht vorstellen kann. Im „Silver Dynamite“ sieht sie den Männern zu, die den Table-Dancerinnen zusehen, die sich „wie ein Stück Fleisch in einem Feinkostgeschäft“ präsentieren.
Auf der Sexmesse „Venus“ in Berlin sind Liveshows mit nackten Tänzerinnen ebenfalls Standard: „Die Frau auf der Bühne dreht sich und senkt ihren Oberkörper. Ihr Gesäß, hygienisch rein wie ein fabrikneues Modell aus Plastik, kreist im Takt der Musik.“ Nora Bossong beobachtet genau, beschreibt detailliert, manchmal mit erkennbarer Irritation, manchmal auch mit Widerwillen gegenüber den diversen Varianten von Erotik gegen Bezahlung.
Wie damals als Elfjährige vor dem Beate-Uhse-Shop ist ein Motiv unverändert: Neugier. Sie lässt Nora Bossong in ein Studio an einer Kölner Hauptverkehrsstraße gehen, um herauszufinden, was es mit der „Kunst der Berührung“ bei der Tantra-Massage auf sich hat. Oder in einen Swingerclub in Berlin-Kreuzberg. Sie lässt sie nach Zürich fliegen, um Edi Stöckli zu treffen, der als „Pornokönig der Schweiz“ in den 70er Jahren zu den Pionieren der Branche gehörte.
Zu den eindrucksvollsten Kapiteln gehört das über die Frauen vom Berliner Straßenstrich. Nicht weil es besonders heftig wäre, sondern weil die Frauen so offen von ihrem Leben erzählen, in dem Sex gegen Bezahlung wie selbstverständlich erscheint.
Nora Bossong schafft es, ihre Beobachtungen nicht voyeuristisch wirken zu lassen. „Rotlicht“ ist wie ein Dokumentarfilm, der ohne billige Effekte auskommt. Und der nicht dabei stehenbleibt, Beobachtungen wiederzugeben, sondern immer wieder darüber reflektiert, was hinter den rotlackierten Türen vor sich geht.
Das Rotlicht verspricht, alles sei käuflich: „die Nächte und die Fantasien, die Körper und die Ekstasen“. Doch weder im Sexshop, noch im Stundenhotel oder Laufhaus „gibt es jene Berührung zu erstehen, die über alle übrigen Berührungen hinausweist“, schreibt Bossong. „Jene eine Berührung, die uns etwas bedeutet, mit der wir das Gegenüber nicht nur körperlich greifen, sondern uns durch den anderen ergreifen lassen können. Sich verlieben nennt man das wohl.“
– Nora Bossong: Rotlicht, Hanser Verlag München, 238 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-446-25457-2.