
Rebecca Tan berichtet für Vox.com: »Wie sich herausgestellt hat, ist das jüngste Vorgehen gegen die Live-Streaming-Branche nicht politisch motiviert, sondern richtet sich konkret, nun ja, gegen pornografische Inhalte.
Es stimmt zwar, dass die chinesische Regierung unter Präsident Xi Jinping die Kontrolle über die politische Opposition im Internet strenger ausführt, ist das nicht der eigentliche Grund für die derzeitigen Vorgänge.
»Es gibt nicht viele Hinweise darauf, dass Live Streaming als politische Plattform genutzt wird. Es ist eher sozial«, so Adam Segal, Experte für Cybersecurity in China für den Council on Foreign Relations.
»Es geht nur um Porno. Das ist der Hauptgrund – die Pornografie«, so Tian. »Die Regierung hat es eine Weile zugelassen, aber jetzt geht es zu weit.«
Nachdem die Regierung die Erklärung veröffentlicht hat, in der die Unternehmen Sina Weibo, iFeng und AcFun erwähnt werden, ging der Börsenkurs aller drei Firmen in die Knie. Weibo, die Microblog-Seite von Sina, das Twitter an Nutzerzahlen im Mai überholt hat, musste innerhalb eines Tages einen Kurseinbruch von 6 Prozent hinnehmen. Das entsprach etwa 1 Milliarde Börsenwert.
Die Drohung der Regierung hatte also offensichtlich den gewünschten Effekt, doch weder chinesische Unternehmer noch Social Media Nutzer schienen allzu besorgt. Das liegt nicht nur daran, dass die in der Erklärung angeführten neuen Vorschriften bereits vor sieben Monaten festgelegt wurden, sondern auch daran, dass die Kunden erkannten, dass die Drohung die Seiten zu schließen zunächst mal genau das war: eine Drohung.
»Diese Unternehmen werden niemals dauerhafte Schäden erleiden«, sagt Tian. »Das war nur ein Schlag auf die Hand. Und die Unternehmen sind daran gewöhnt – wenn man groß ist, wird man herumgestoßen.«
Die eher vage gehaltene Drohung Richtung Sina Weibo scheint diese Vermutung zu stützen. Die Erklärung fordert, alle nicht lizenzierte Live-Streaming-Plattformen zu schließen, doch alle Sina-Angebote befinden sich auf lizenzierten Plattformen. In den zwei Wochen seit der Erklärung hat Yizhibo den Betrieb nicht eingestellt oder auch nur Anstalten gemacht, dies tun zu wollen. Live-Streaming-Plattformen von iFeng und AcFun sind ebenfalls weiter stark am Markt vertreten.
Mit anderen Worten, es ist nicht klar, was die Unternehmen auf die Drohung hin überhaupt unternehmen sollten, wenn sie denn überhaupt etwas tun sollten. Tian sagt, dass es wahrscheinlicher ist, dass die Regierung ein Exempel an ihnen statuiert – eine viel verwendete Taktik der chinesischen Regierung beim Umsetzen neuer Vorschriften.
»Das ist typisch China: Erst veröffentlichten sie die Vorschrift; dann verfolgen sie ein paar große Unternehmen, um ein Exempel zu statuieren«, so Tan.
Die Erklärung ist daher vielleicht eher eine Warnung als eine echte Verfolgung, aber das bedeutet nicht, dass es keinerlei Antwort geben sollte. Die Kommunistische Partei Chinas hat ganz gewiss die Macht, Unternehmen in die Knie zu zwingen, wenn sie das möchte – so hat die Partei bereits einfach das westliche China vom Internet genommen, als es 2009 zu ethnischen Konflikten kam. Das bedeutet, dass die Regierung aus folgendem Grund vage ist: die Regierung will den Live-Streaming-Markt nicht zerstören, sie will ihn lediglich kontrollieren.
Live Streaming ist in China sehr profitabel und könnte es in Zukunft noch mehr werden. Laut einem Bericht des chinesischen Ministeriums für Industrie und Informationstechnologie haben bis Ende 2016 344 Millionen Menschen in China die Live-Streaming-Dienste im Land genutzt. (Nur zum Vergleich: das ist die Anzahl der gesamten US-Bevölkerung). Während diese Dienste zunächst von jungen Chinesen genutzt wurden, die in die Stadt gezogen waren und sich einsam fühlten, ist das Angebot inzwischen von einer breiten Gruppe an Internetnutzern angenommen worden. Diese schauen den Darstellern dabei zu, wie sie in ihren Schlafzimmern tanzen oder Nudelschüsseln leer schlürfen.
Und der Trend wird sich vermutlich fortsetzen: 344 Millionen bedeutet etwa 47% der chinesischen Internetkunden. Und Experten sagen voraus, dass der Trend sich noch tief in den Markt ausbreitet. 2016 hat sich die Live-Streaming-Branche nahezu verdoppelt und einen Umsatz von nahezu 3 Milliarden Dollar erzielt, so ein Bericht in The Economist.
Was die Regierung will, ist nicht so sehr, das Wachstum der Branche zu hemmen, sondern eine Konsolidierung zu erreichen. Auch wenn die Regierung am 22. Juni also drei große Unternehmen an den Pranger gestellt hat, dürfte das eigentliche Ziel der Aktion die kleineren Unternehmen sein.
»Ein Ziel der Regierung ist es stets, das Feld der Marktteilnehmer zu verkleinern, wenige große Marktteilnehmer sind das Ziel, idealerweise Unternehmen, die bereits mit den Behörden kooperiert haben«, erzählt Mark Natkin, ein leitender Angestellter der in Peking ansässigen Beratergruppe Reuters. »Auf lange Sicht ist das vermutlich vorteilhaft für die großen Unternehmen.«
Das ist genau das, was bei dieser Aktion zu beobachten ist. Bereits vor der Warnung vom 22. Juni hat die chinesische Regierung damit begonnen, kleinere Internetfirmen zu schließen, die nicht über die richtigen Lizenzen verfügten. Im März haben Analysten der Deutschen Bank im Interview mit South China Morning Post angegeben, dass strengere Vorschriften zig kleinere Live-Streaming-Plattformen vom Markt genommen haben. Tian stimmt dem zu und sagt, dass er beobachten konnte, dass immer mehr Nutzer zu den größeren, lizenzierten Plattformen wechseln.
Währenddessen haben sich die großen Streaming-Unternehmen genau so verhalten, wie man es erwarten durfte. Letzte Woche hat Sina Weibo eine Presseerklärung herausgegeben, in der das Unternehmen die Zusammenarbeit mit staatlichen Medien wie die Nachrichtenagentur Xinhua zusammenzuarbeiten, um »chinesischen Mainstream-Stimmen« eine größere Plattform zu bieten und sicherzustellen, dass das Internet für alle Nutzer ein »gesunder und heller Ort ist.«
Diese Erklärung legt nahe, dass die Warnung vom 22. Juni weniger als Durchgreifen zu verstehen war, sondern eher als subtiler Hinweis, dass der Regierung Achtung gezollt werden muss.
Live-Streaming-Darsteller sind in der Lage, ihre Filme zu einem wirklichen Lebensunterhalt zu machen, indem sie von ihrem Publikum »virtuelle Geschenke« erbeten und so bis zu 1 Millionen Dollar (6,8 Millionen RMB) im Jahr verdienen.
»Es lohnt sich ‚zu performen‘, und es ist schnell verdientes Geld, wenn man Softsex oder Pornografie anbietet«, meint Tian.
Das findet natürlich vor allem auf den kleineren Live-Streaming-Plattformen statt, die Darstellerinnen und Zuschauer dadurch ködern, dass sie mit der Regulierung der Inhalte laxer umgehen als die großen Anbieter. Kürzlich erst hat sich eine junge Darstellerin auf der App Huoshanzhibo beim Umziehen live gestreamt, was der App einen gewaltigen Zuschauerzuwachs bescherte, berichtet Caixin News.
Das wurde von der Regierung nicht hingenommen, die aufgrund ’signifikanter Lücken bei Huashanzhibo Ermittlungen gegen die Unternehmensleitung des Live-Streaming-Portals anstrengte.
»Die Position der Regierung ist, dass das Internet kein wilder Westen ist. Es braucht Regeln, es muss zivilisiert sein und es muss Ordnung herrschen«, sagt Segal.
Internetpornografie ist in China anders als in anderen Ländern gänzlich verboten. Die Behörden setzen dieses Verbot aktiv durch. Der Live-Streaming-Boom jedoch ist besonders schwierig zu regulieren, da es schlicht unmöglich ist, die Darsteller 24 Stunden lang zu beobachten und sie zu zensieren, bevor sie einen Nippel zeigen.
Als Reaktion hat die Regierung ihre Anstrengungen verdoppelt: letztes Jahr wurde das ‚erotische Verspeisen von Bananen‘ auf Live-Streaming-Plattformen verboten. Und seit Mai dieses Jahres wurden die Accounts von 30.000 Webcam-Darstellern aufgrund pornografischer oder gewalttätiger Inhalte geschlossen.
Die Warnung vom 22. Juni war vermutlich Teil dieser Entscheidungen, Internetunternehmen dazu zu bewegen, ihre Live-Streaming-Plattformen besser zu überwachen, so Tian. Er fügt hinzu, dass es die chinesischen Behörden nicht einfach nur eine leere Drohung aussprechen würden, wenn sie gegen politische Opposition vorgehen würden.
»Bei politischen Inhalten werden die Seiten nicht einfach geschlossen«, sagt er. »Dafür wandern Leute ins Gefängnis.«
Man darf sich nicht täuschen: die chinesische Regierung kann politische Opposition jederzeit verfolgen. Und sie tut dies auch, insbesondere, wenn es zu wirklichen Protesten kommen kann. Die Warnung an Sina Weibo, iFeng und AcFun vom 22. Juni ist aber etwas anderes.
Dies sieht eher nach knirschenden Verhandlungen mit den führenden Onlineunternehmen des Landes aus – eine Reihe von öffentlichen und privaten Erklärungen, von denen chinesische Netzsurfer wissen, dass es sie bis auf Weiteres nicht daran hindern wird, ihren Lieblingsdarstellern beim Fastfood-Essen in Schlafanzügen zuzuschauen.«