Das Sterben der Kontaktanzeigen in den USA als Gefahr für die LGBT-Community

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In der Chicago Tribune kommentiert Jon Shadel das Ende der Kontaktanzeigen auf Craigslist als Folge der SESTA/FOSTA-Gesetze als schweren Verlust für die LGBT-Community.

Als Chelsea Reynolds an der University of Minnesota die Graduate School besuchte, lasen sie und ihre Freunde den Kontaktanzeigenteil von Craigslist gemeinsam, insbesondere natürlich den Bereich für losere Kontakte. Sie scrollten sich durch die Anzeigen von anonymen Nutzern, die auf der Suche nach zwanglosem Sex waren, viele davon illustriert mit schlecht aufgelösten Fotos.

Das war in den frühen Nullerjahren. Reynolds sagte, dass sie damit begonnen hat, die Kontaktanzeigen zu lesen, als sie in die High School ging. »Da ist ein exhibitionistischer Aspekt mit dabei, wenn man etwas auf Craigslist veröffentlicht, und indem man es liest, wird gewiss auch ein voyeuristischer Aspekt bedient«, erzählt sie. Inzwischen ist sie Assistant Professor für Kommunikation an der California State University in Fullerton. Und immer noch frequentiert sie die Anzeigenseite, zumindest bis letzte Woche, als Craigslist plötzlich die Kontaktanzeigen aus seinem Angebot verbannte.

Diese anonyme Welt, die ihre eigene erotische Sprache entwickelt hat („str8,“ „BBW,“ „dom,“ „BB,“ etc.), bot Reynolds bis dahin ein virtuelles Fenster in das Intimleben von Fremden.

»Die meisten meiner Freunde sind queer«, so Reynolds, die sich ebenfalls als queer bezeichnet. »Wir waren erstaunt darüber, wie viele selbst identifizierte Heteros nach gleichgeschlechtlichen Kontakten in den Sexforen suchten.«

Das Phänomen inspirierte Reynolds dazu, eine Analyse hunderter von Annoncen auf Craigslist durchzuführen. Während sie ihren Master abschloss, veröffentlichte sie einen wissenschaftlichen Beitrag mit dem Titel »Ich bin Super-Hetero und ich bevorzuge es, dass Du es auch bist«. Reynolds untersuchte für ihre Doktorarbeit die Medienberichterstattung zu den Casual-Anzeigen auf Craigslist und stellte dabei wiederkehrende Muster fest: Etwa 50% der Artikel legten den Fokus auf Sexverbrechen und Sexarbeit, 20% beschäftigten sich mit Ermittlungen, die sich aus den Kontaktanzeigen ergeben haben.

Die überwiegend negative Berichterstattung schien nicht übereinzubringen mit dem, was sie selbst in Hunderten von Kontaktanzeigen, die zwischen 2005 und 2016 für New York City, Chicago und Los Angeles auf Craigslist beobachten konnte. »Meine Forschung ergab, dass die meisten Nutzer des Sexforums auf Craigslist normale Menschen waren, die ihre Sexualität mit Fremden online erkunden wollten«, sagt sie. Reynolds bezeichnet die meisten dieser Nutzer als »sexuelle Outsider«, LGTBQ-Menschen, nicht-monogam lebende Menschen und Fetisch-Communities, die für durchschnittliche Dating-Portale keine relevante Zielgruppe seien. Sie betont auch, dass »statistisch gesehen nur sehr wenige« Craigslist-Nutzer Opfer von Menschenhandel seien.

Dennoch haben gruselige Berichte über Mord, Vergewaltigung und kürzlich über einen Vater, der versucht hat, seine Kinder gegen Bezahlung für Sex zur Verfügung zu stellen, haben den zweifelhaften Ruf der Kontaktanzeigen auf der Seite nur noch verschärft. »Das ganze Jahrzehnt hindurch haben die Medien als Hort der Prostitution gebrandmarkt und die Seite als Sündenbock für den Menschenhandel mit Prostitutionshintergrund gemacht«, so Reynolds. »Ob nun absichtlich oder nicht, Mainstream-Journalisten haben einen moralischen Kreuzzug herbeigeführt.«

Dieser »Kreuzzug« fand letzten Freitag seinen vorläufigen Höhepunkt in der Löschung der Kontaktanzeigen auf Craigslist. Dies war eine Reaktion auf die Verabschiedung eines umstrittenen neuen Gesetzes – eine Zusammenführung von FOSTA [Fight Online Sex Trafficking Act] und SESTA [Stop Enabling Sex Traffickers Act] – das mit 97 zu 2 Stimmen letzte Woche im Senat angenommen wurde. Präsident Donald Trump wird das Gesetz noch unterschreiben, dann tritt es in Kraft.

Das Gesetz stellt eine Erweiterung der »Good Samaritan«-Klausel in Abschnitt 230 des Communications Decency Act dar, die Webseiten von juristischen Folgen von Handlungen ihrer Nutzer freispricht. Ohne diese Klausel dürfte die durch soziale Medien geprägte Kultur des Internets, wie wir es kennen, zum Ende kommen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Anzeigen auf Craigslist mit Menschenhandel in Verbindung gebracht wurden. 2010 hat die Seite ihren Anzeigenbereich für erotische Dienstleistungen geschlossen, nachdem die Staatsanwaltschaft immensen Druck ausgeübt hatte – eine Entscheidung, die Sexarbeiter mutmaßlich in Gefahr gebracht hat.

Die übers Knie gebrochene Entfernung aller Kontaktanzeigen jedoch ist beispiellos. Für viele LGBT-Nutzer der Seite dürfte sich das angefühlt haben, als würden heterosexuelle Nutzer eines Morgens aufwachen und Tinder wäre einfach von ihren Handys gelöscht worden.

Die SESTA-FOSTA Gesetzgebung schafft diffuse Probleme für freiwillige Sexarbeiter. Die Gesetzgebung gibt vor, dass sie sich gegen den zunehmenden Menschenhandel im Prostitutionsbereich stemmt, obwohl Vereinigungen wie die American Civil Liberties Union behaupten, dass »dies genau jenen schadet, die das Gesetz beschützen soll«. Meinungsfreiheit-Aktivisten sehen in dem Zusatz zum Abschnitt 230 eine »zweifellose Einschränkung der Meinungsfreiheit«, so das Center for Democracy & Technology.

Doch für die Mehrheit der LGBT-Menschen, die Craigslist seit Jahrzehnten nutzen, bedeutet die Löschung der Kontaktanzeigen die Schließung eines Ortes für queere Kultur – ein kostenloser und zugänglicher Cyberschutzraum für jene, die ihre Sexualität und ihr Geschlecht erkunden wollen.

»Die Menschen haben sich die Anzeigen angesehen und waren schockiert, wie sexuell aufgeladen die waren«, so der Kolumnist Dan Savage. »Es hat zwischenmenschliche Kontakte erleichtert, die nicht ausbeuterisch oder entmenschlichend waren – ich kenne Menschen, die inzwischen 10-15-jährige Beziehungen führen, die auf Craigslist ihren Anfang nahmen.«

Als ich Savage befragt habe, welchen Einfluss der Verlust der Craigslist-Kontaktanzeigen für die LGBTQ-Community als Ganzes bedeuten würde, hielt er kurz inne und sagte: »Es ist einfach schwer zu formulieren.«

Für eine Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, waren Craigslist und ähnliche Unternehmen queere Räume, über die sich Menschen vorsichtig aus dem Schatten begeben konnten, ohne sich outen zu müssen, so Savage. »Apps und Cragslist haben die eigene Wohnung auf Wunsch in Saunen verwandelt – das Cruisen verlagerte sich in die Onlinewelt.«

Craigslist war natürlich nicht die erste »Sauna im Internet«, wie das Onlinemagazin AOL im Jahr 1999 nannte. PlanetOut-Mitbegründer Tom Tielly sagte Salon im Interview, dass »Menschen annahmen, dass ein Drittel aller Chaträume schwul ausgerichtet waren«. Zu jener Zeit gab es bei AOL etwa 16.000 Chaträume – einer der Gründe, weshalb Nutzer dem Anbieter den Spitznamen GayOL gegeben haben. Bevor Onlinechats und spezifisch homosexuelle Social Networks wie Gay.com und Manhunt.net aufkamen, gab es in den 80ern Usenet Newsgroups (die ersten bekannt gewordene hieße „soc.motss“, eine Abkürzung für ‚Members of the same Sex‘).

Und noch bevor das Internet begann, LGBT Menschen auf neuartige Weise zu verbinden, spielten Kontaktanzeigen eine bedeutende, aber wenig bekannte Rolle in der Geschichte der queeren Sexualität: Kontaktanzeigen erlaubten es gleichgeschlechtlichen Paaren, sich heimlich zu treffen und dabei strafrechtliche Konsequenzen auszuschließen, die in einigen Fällen mit dem Tod enden konnten. Schwule Anzeigen erschienen ab dem 18. Jahrhundert in gedruckten Zeitungen und Zeitschriften, ein bemerkenswertes Beispiel ist Gai Pied, einst das meistgelesene Schwulenmagazin in Frankreich – gegründet vom Journalisten Jean Le Bitoux und benannt nach dem Philosophen Michel Foucault. Gai Pied veröffentlichte von 1979 bis 1991 Kontaktanzeigen.

In seinem Buch von 2009 »Classified: The Secret History of the Personal Column« zeigte Harry Cocks, Dozent an der University of Nottingham, wie Kontaktanzeigen im 20. Jahrhundert ein Vorläufer der heutigen mobilen Dating-Apps waren. Und auf die gleiche Weise wie queere Menschen einst aus reiner Notwendigkeit heraus Kontaktanzeigen aufgaben, war die LGBT-Gemeinschaft auch ein Early Adopter von Online-Dating. Homosexuelle Menschen benutzten eine Vielzahl solcher Websites zu einer Zeit, als es noch ein ausgeprägtes Stigma in Verbindung mit der Suche nach Liebespartnern im Internet gab. Heute trifft sich die Mehrheit der gleichgeschlechtlichen Paare online.

Savage ist besorgt, dass diese neue Gesetzgebung »die Art und Weise gefährden könnte, wie wir jetzt leben«, besonders wenn das SESTA-FOSTA-Gesetz noch nicht einmal in Kraft getreten ist und dennoch bereits die Befürchtungen vieler zu bestätigen scheint. Er hält die Reaktionen für eine klassische Sex-Panik, bei der die Anbieter vorauseilend Selbstmord begehen.

»Was passiert, wenn Sexarbeiter zu OkCupid oder Christian Mingle oder FarmersOnly ziehen?« fragte er. »Jeder kann sich im Internet frei bewegen und eine persönliche Anzeige auf Millionen verschiedener Apps und Sites schalten. Werden die jetzt alle schließen? Ist das das Ende der Internet-Kontaktanzeigen?«

Die Tatsache, dass Craigslist Kontaktanzeigen zu einem Zeitpunkt verschwinden, an dem die amerikanische Öffentlichkeit gegenüber LGBT-Leuten weniger tolerant wird, beunruhigt Brandon Robinson, einen Post-Doktoranden in der Abteilung für Genderfragen und Sexualität an der University of California at Riverside. Robinson, der geschlechtsneutrale Pronomen verwendet, hat untersucht, welchen Einfluss das Internet im Leben queerer Menschen spielt.

»Es gibt immer noch sehr reale Konsequenzen – wie den Verlust der familiären Bindungen und die Diskriminierung am Arbeitsplatz – für Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen, besonders wenn diese Neigungen bekannt werden“, erklärt Robinson.

Während es eine breite Vielzahl von LGBT-orientierten Dating Apps gibt, seien es laut Robinson die Zugänglichkeit und die totale Anonymität von Craigslist, die das Angebot so ansprechend und unverwechselbar gemacht hätten.

»Anonyme Netzwerktools sind immer noch wichtig für eine Vielzahl von Menschen, die ihre gleichgeschlechtlichen Wünsche erforschen und/oder umsetzen wollen, da diese Wünsche immer noch stigmatisiert werden«, sagte Robinson und fügte hinzu, dass trotz der Schönheitsfehler, Internet-Kontaktanzeigen viele positive Aspekte haben, wie zum Beispiel, queeren Menschen zu helfen, »einander zu finden oder sich einfach nicht allein in der Welt zu fühlen«.

Robinson und die anderen Personen, die ich für diese Geschichte interviewt habe, befürchten, dass es die am stärksten ausgegrenzten queeren Menschen – wie z.B. Sexarbeiter und solche in ländlichen Gebieten – sein werden, die durch die Streichung von Craigslist Kontaktanzeigen am meisten geschädigt und isoliert werden. Robinson glaubt auch, dass diese Craigslist Benutzer am wenigsten geneigt sein werden, die Mainstream-Apps auszuprobieren, da die meisten von ihnen die Verwendung ihrer Vornamen und die Verbindung zu Social Media Accounts erfordern.

Reynolds betonte diese Bedenken. »Es wird immer einen Markt für verschleppte Mädchen geben, und die Schließung der Sexforen auf Craigslist wird es den Strafverfolgungsbehörden nur noch schwerer machen, Sexualstraftäter zu beobachten, zu identifizieren und festzunehmen«, sagte sie. »Craigslist ist eine wesentliche Ressource für die queere Gemeinschaft, und es scheint, dass rechtmäßige Craigslist-Nutzer nun für die Verbrechen von Menschenhändlern bestraft werden.«

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