
Während Indien in westlichen Medien derzeit vor allem durch die versuchte Zensur pornografischer Inhalte und einem seltsamen Umgang mit Frauen bei den diesjährigen Wahlen von sich reden macht, wächst der Markt für Sexspielzeug und sexuelle Gesundheit auf dem Subkontinent rasant an. Schätzungen gehen davon aus, dass das Umsatzpotenzial für die Branche bei drei Milliarden Dollar liegt.
Dass sich der Sexspielzeugmarkt in Indien im Aufwind befindet, dürfte in der Branche kein Geheimnis sein. Die immense Expansionsstrategie des größten indischen Online Sexshops ImBesharam zeugt vom gesunden Selbstbewusstsein eines Wirtschaftszweigs, der es in dem konservativ geprägten Land bis vor kurzem nicht leicht gehabt haben dürfte. Doch auch in westlichen Staaten hat sich das Tabu um Sexspielzeug und sexpositive Wellnessprodukte erst in den letzten 20 Jahren abgebaut.
Die Chancen in Indien sind gewaltig. 1,3 Milliarden Einwohner zählt das Land. Die Armut ist zwar nach wie vor immens, doch gibt es längst eine große Mittelschicht und eine riesige Anzahl von Millionären. Der Großteil des Potenzials, so der Gründer von ImBesharam ist noch lange nicht gehoben.
Der Netflix-Faktor: Nachfrageboom für Sexspielzeug durch mediale Darstellung
Der jüngste Wachstumsschub ist ähnlich wie im Westen durch die Mainstream-Medien entstanden. Was der Auftritt des Rabitt in Sex and the City war für Indien eine Folge der Netflix-Reihe Lust Stories, in der die Schauspielerin Kiara Advani mithilfe eines Vibrators zum Höhepunkt kommt, während ihr Ehemann und ihre Schwiegermutter versehentlich zusehen. In Indien löste diese Szene einen Run auf Sexspielzeug aus. Der in der Szene gezeigte Bullet-Vibrator wurde auf allen Handelsplattformen des Landes in kürzester Zeit ausverkauft. Auch in einigen Bollywood-Produktionen waren kürzlich mehrfach Szenen mit Sexspielzeug zu sehen.
Zwar erfuhr die Schauspielerin Swara Bhaskar durchaus einen Shitstorm in den sozialen Medien, da ihre Masturbationsszene im Bollywood-Film Veere Di Wedding viele religiöse Eiferer erboste, doch die Nachfrage war entfesselt und der Geist aus der Flasche.
ImBesharams Gründer, Raj Armani, sagt dazu: »In unseren Statistiken haben wir bei Käuferinnen und beim Verkauf von Sextoys für Frauen im Juli und August letzten Jahres Rekordzahlen verzeichnet.« Immer mehr Frauen, so der umtriebige Unternehmer, werden experimentierfreudiger und probieren sich und ihre Lust mit der Hilfe der Toys aus.
Zahlreiche Unternehmer erleben Nachfrageboom
Auch der Marketingleiter von ImBesharams Konkurrenten That’s Personal freut sich über den durch Medien verursachten Boom. Vineshkumar Kunjiraman sagt, dass sein Unternehmen allein im Juni letzten Jahres einen Umsatzwachstum von 57% erlebten. Der Traffic über durch bei Google eingegebene Keywords erreicht unerkannte Höhen, freut sich der Marketingexperte.
Potenzial immens, die Hürden gewaltig
Andere beurteilen den gegenwärtigen Trend mit Vorsicht. Sexberaterin Pallavi Barnwal sagt: »Es wird noch Jahrzehnte brauchen, bevor wir unsere sexuelle Energie annehmen können. Es gibt kaum ein Forum oder einen öffentlichen Raum, in dem über Sex im Hinblick auf Sinnlichkeit, Zärtlichkeit, Raffinesse von Person zu Person gesprochen wird.« Die Bedeutung von Sextoys bei der Aufklärung betont sie vehement.
Der Händler von Wellness-Produkten, Reizwäsche und leistungssteigernden Mittelchen Kaamastra gehört zu den Profiteuren des sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wandels hin zu einem positiven Umgang mit Sexualität. Rahber Nazir arbeitet für das Unternehmen und betont das wachsende Wissen bei den Verbrauchern: »Es gibt inzwischen ein sehr viel besseres Verständnis um unsere Produkte, die Anfragen werden immer detaillierter.« 2018 konnte Kamaastra seinen Konkurrenten ItsPleaZure übernehmen.
Gesellschaftliche Öffnung für sexuelle Freiheit
Und während die Zensurbestrebungen gegen Onlinepornografie vermuten lassen, dass sich das Land verschließe und radikalisiere, gibt es längst positive Tendenzen, die darauf hindeuten, dass die Uhr auch in Indien nicht zurückzudrehen ist. 2018 hat das oberste Gericht das Landes Homosexualität dekriminalisiert. Neben der bürgerrechtlichen Errungenschaft entstehen durch die Legalisierung auch Geschäftsmöglichkeiten, die bisher im Verborgenen oder gar nicht gehoben werden konnten. Schließlich ist der Markt für die LGBTQ-Community immens.
That’s Personals Anwältin sagt dazu: »Wir können nun viele Produkte verkaufen, ohne Angst haben zu müssen. Wir hatten beispielsweise ein paar Artikel im Sortiment, die für Analsex gedacht sind und die vermutlich besonders bei Mitgliedern der LGBTQ Community beliebt sind. Zwar haben wir die auch zuvor verkauft, aber als sich Situation gesellschaftlich zuspitzte, haben wir eine Weile aus dem Sortiment genommen. Wir schauen uns nun genau an, welche Produkte wir auf dem indischen Markt für die Community anbieten können. Derzeit kennt sich da niemand so richtig aus.«
Obszönitätsgesetze erfordern Anpassungen an den indischen Markt
Die Bestückung des Sortiments ist nicht so leicht wie im Westen. Trotz der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz bleiben viele Produkte tabu, da sie als obszön gelten. Dazu zählen auch Dildos, deren Form einem Penis nachempfunden ist. Rahber sagt: »Wenn man einen Dildo in Form eines Penis hat, ist das ein Problem. Sieht es aber etwas abstrakter aus, ähnelt also vielleicht eher einer Banane, dann ist das okay.«
Händler befinden sich also bisweilen in einer schwierigen Situation. Aufgrund eines Gesetzes gegen Obszönität müssen indische Einzelhändler stets abwägen, inwiefern sie sich mit einem Produkt auf juristisches Glatteis begeben. Daher sind in Indien insbesondere solche Vibratoren populär, die in Form eines Lippenstifts oder anderer kosmetischer Utensilien daherkommen.
Doch nicht nur die Produkte selbst, auch die Verpackung, das Marketing und die Werbekampagnen müssen unter diesem Aspekt für den indischen Markt meist neu konzipiert werden. Auf dieser dürfen auf keinen Fall explizite oder als obszön zu verstehende Abbildungen zu sehen sein. Ähnlich wie in den USA ist das Obszönitätsverbot relativ schwammig formuliert und eine Verletzung des Verbots im Einzelfall eher Auslegungssache.
Mund-zu-Mund-Propaganda nur in einer offenen Gesellschaft möglich
ImBesharams Armani verweist auf eine zusätzliche Hürde für indische Händler, wobei er hofft, dass diese durch die medialen Darstellungen geringer werden könnte. Bisher jedenfalls war es so, dass die Unternehmen der Branche nahezu nie von Mund-zu-Mund-Propaganda profitieren konnten. Die meisten Kunden sprechen über ihre Sexspielzeug-Käufe nicht. »Die größte Hürde, die wir vor uns haben, ist unser Publikum zu erreichen. Wir garantieren unseren Kunden 100% Privatheit, und weil unsere Kunden eben nicht wollen, dass andere davon erfahren, dass sie bei uns eingekauft haben, da sie nicht verurteilt werden möchten, sprechen sie nicht über ihr Einkaufserlebnis bei uns. Wir müssen also doppelt so viel in Marketing investieren, wie andere derart erfolgreiche Marken es müssten, um die gleiche Reichweite zu erreichen.«
Solche Hürden schaffen in allen Bereichen besondere Herausforderungen. Für ein auf Wachstum setzendes Unternehmen wie ImBesharam hat dies lange Zeit die Suche nach Wagniskapital und Investoren erschwert. Kürzlich aber konnte das Unternehmen Investoren aus den USA für die globale Wachstumsstrategie des Erotikhändlers gewinnen.
Bisher gehören immer noch traditionelle Produkte wie Gleitmittel und Vibratoren zu den größten Umsatzbringern im indischen Handel. Doch auch hier ist davon auszugehen, dass die indischen Verbraucher mit der Zeit experimentierfreudiger werden. Eine immense Chance, auch für westliche Hersteller, die sich mit den Gepflogenheiten und Anforderungen des indischen Markts beschäftigen wollen.
ImBesharam jedenfalls ist optimistisch. Mit dem frischen Geld will das Unternehmen im Ausland lebende Inder in aller Welt beliefern. Armani, das macht er deutlich, sieht sich als künftigen Global Player der Branche.